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25. Oktober 2017

Tante Claire

Mittlerweile besetzte Tante Claire eine geschlagene Woche das Gästezimmer und brachte viel Wirbel in unser kleines Heim. Meine Eltern vermieden jegliche Begegnung mit ihr, was sich als ziemliche Herausforderung in unserem Haus gestaltete. Zu den Mahlzeiten hatten sie keine Möglichkeit ihr auszuweichen und so saßen wir alle vier stillschweigend am Essenstisch. Eine eisige Aura umgab meine Eltern und es raubte mir den letzten Nerv. „Was ist bloß euer Problem?“, schnauzte ich sie eines Mittags an. Mir reichte es. Tante Claire war für ihr Alter – ich schätzte sie auf mindestens 43 – eine sehr aufgeweckte und liebenswürdige Person. Die Haltung meiner Eltern ihr gegenüber konnte ich keineswegs nachvollziehen, besonders da mir niemand Auskunft über die Vergangenheit erteilen wollte.

„Das verstehst du nicht“, kam es beherrscht von meiner Mutter. „Noch nicht“, warf Tante Claire murmelnd dazwischen. „Dann erklärt es mir! Ich habe euer Benehmen satt. Ihr verhaltet euch wie pubertierende Teenager und das sagt euch ein Teenager.“, gab ich schnaufend von mir. Ein Glucksen kam von Tante Claire. Mom schoss ihr einen stechenden Blick zu, woraufhin Tante Claire das Lachen verging. Mein Vater saß still in seiner Ecke und verfolgte aufmerksam das Geschehen. Ich warf ihm einen flehenden Blick entgegen. Dad rückte seinen Stuhl gerade und räusperte sich. „Nun Grace, du hast leider Recht. Wir benehmen uns nicht gerade Erwachsen und höflich gegenüber deiner Tante.“ Mom zuckte zusammen. „Mike“, rief sie empört. Dad wandte sich meiner Mutter zu. „Schatz, egal was wir für ein Problem mit deiner …“ daraufhin räusperte er sich wieder und warf einen intensiven Blick der Person zu „ … Schwester haben. Sind wir doch kein gutes Vorbild für Grace mit unserem Verhalten.“ Endlich, mein vernünftiger Vater kommt zum Vorschein. „Du wirst den Grund bald erfahren Grace. Habe bitte noch etwas Geduld mit uns“, darin legte er so viel Liebe und Wärme, das ich daraufhin nichts mehr erwidern konnte und so das Thema erst mal fallen ließ.


Tante Claire war manchmal sehr merkwürdig. Viele seltsame und skurrile Begebenheiten geschahen in ihrer Nähe. Erst gestern hatte ich sie dabei beobachtet. wie sie im Garten mit einem Vogel sprach, aber so richtig ernsthaft. Als würde der Vogel sie wirklich verstehen, führte sie mit ihm eine rege Diskussion darüber, wie schrecklich doch diese riesigen Hochhäuser mit ihren ganzen Glasfenstern waren. Zustimmend schien der Vogel mit seinem Kopf zu nicken und zwitscherte mal hier mal dort. Ich rieb mir mehrmals verwundert die Augen und konnte es dennoch nicht glauben. War ich verrückt geworden?


In den nächsten Tage verbrachte ich viel Zeit mir ihr und immer war sie fröhlich, doch manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, erhaschte ich einen Hauch von tiefer Traurigkeit in ihren Augen. Bedrückt hatte ich sie eines Abends danach gefragt. „Ach Quatsch, das muss am Licht gelegen haben. Warum sollte ich schon traurig sein.“ Sie lachte laut und viel zu hoch. Damit war das Thema für sie beendet, doch für mich nicht. Was kann einem Menschen schon passiert sein, um so eine Traurigkeit auszustrahlen?

Am Freitagabend fragte ich meine Mutter danach. „Grace, du siehst Gespenster. Claire geht es gut.“ Genervt wandte ich mich ab und verbrachte den restlichen Abend allein in meinem Zimmer. Am nächsten Morgen sah ich aber die beiden, wie sie miteinander tuschelten. Sie schreckten auf, als sie mich kommen sahen. Von wegen, die wollen mich doch verschaukeln. Aber nicht mit mir! Ich finde das schon noch heraus.


Gegen Abend klopfte ich an der Tür zum Gästezimmer. „Komm rein, Grace“. Verwundert öffnete ich die Tür. „Woher wusstest du, dass ich es bin?“ Tante Claire saß in einem tief dunkel blauen Sessel, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Aufmerksam ließ ich meinen Blick durch das Zimmer gleiten. „Wer außer du würde schon freiwillig hier eintreten?“ Ich ließ die Frage unbeantwortet. „Ähm, Tante Claire?“ Sie erhob sich und trat näher zu mir.

„Ja?“, irgendwie klang sie vergnügt. Stand da nicht ein anderes Bett? Doch, aber klar. Mom hatte erst vor zwei Monaten das Gästezimmer neu eingerichtet. Wir waren zusammen im Ikea und sie hatte sich für eine schwarze modische Garnitur entschieden. Doch jetzt stand da, wo eigentlich das Bett mit dem schwarzen Holzrahmen stehen sollte ein altmodisches Bett mit hellen Holzrahmen. Aufmerksam wurde ich von Tante Claire beobachtet.

„Sag mal … irgendwas ist doch hier anders oder nicht?“ Fragend wanderte mein Blick zu ihr. Ihre Augen begegnen schelmisch den meinen. „Findest du?“, fragte sie unschuldig.

„Hallo? Da steht ein vollkommenes anderes Bett und ein Sessel, den ich noch nie gesehen habe.“ Immer noch schelmisch sagte sie.

„Ich habe halt gerne immer mein eigenes Bett und ohne den Sessel gehe ich nirgendwo hin.“ Mein Herz rutschte mir in die Hose. „Wie... was... soll das etwas heißen? Aber.... du hattest doch nur eine kleine Tasche dabei.“ Mir blieb die Luft kurzzeitig weg.

„Tja, kleine Dinge sollte man nie unterschätzen.“ Dabei schenkte sie mir ein Zwinkern. Erstaunt öffnete ich meinen Mund.


 

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